Mittwoch, 2. Mai 2018

Zum 1. Mai

Frau Dr. Salomon von der Tageszeitung "Kurier" führt uns – wieder einmal – deutlichst vor Augen, wozu Journalismus fähig ist; und zwar fähig im denkbar negativen Sinne:

In der Ausgabe vom 30. April 2018 gelang ihr mit ihrem Leitartikel, den sie aus Anlass des 1. Mai ihrer Leserschaft zumutete, eine manipulative und propagandistische Meisterleistung: Sie schaffte es glatt, sogar diesen Anlass – der unzweifelhaft und seit jeher die Interessen der Arbeitnehmer zum Gegenstand hat – skrupellos zu missbrauchen, um ihr übliches neoli­berales Gewäsch zu präsentieren, die Unternehmen als bemitleidenswerte Opfer darzustellen und die Probleme der Arbeitnehmer gar nicht vorkommen zu lassen bzw. diesen Personen sogar ein Mehr an Ausbeutung zuzumuten.

Salomons Text trägt die Überschrift "Zum 1. Mai: Hört die Signale!" (im Internet ist er hier nachzulesen: https://kurier.at/meinung/zum-1-mai-hoert-die-signale/400028578).

Ich werde mich nicht mit jedem Detail dieses polemischen Machwerks auseinandersetzen, sondern nur stichwortartig einige Stellen herausgreifen, die meine eingangs erwähnte Diagnose besonders deutlich belegen: 

Einer der unverschämtesten Sätze in dem Leitartikel lautet:

"Globale Internetriesen […] sollten 'gerechte' Steuern zahlen (ein schwieri­ges EU-Projekt) – derzeit quetscht man mittlere und kleine Unternehmen so erbarmungslos aus, dass hier ein neues Prekariat entstanden ist, für das niemand Fahnen schwingt."

Indem Salomon das Wort "gerechte" unter Anführungszeichen setzt, will sie offenbar relativieren oder überhaupt in Abrede stellen, dass es so etwas wie angemessene Steuern geben kann – aber das nur nebenbei. Empörend ist ihre Behauptung, "man" (offensichtlich meint sie die öffentliche Hand) quetsche mittlere und kleine Unternehmen erbarmungslos aus. Sie soll mal einen Blick auf die Ertragslage (nach Steuern!) vieler solcher Betriebe werfen, und sie soll sich vor allem auch die persönlichen Lebensverhältnisse einschlägiger Unternehmer/innen ansehen. Das von ihr so bezeichnete "neue Prekariat" führt im materiell ungünstigsten Fall eine mittel­ständisch-gutbürgerliche Existenz.

Und Salomon komme mir jetzt nicht mit den gern ins Treffen geführten Einmann-Betrieben. Sie bezieht sich mit ihrem Geschwätz ausdrücklich und pauschal auf "mittlere und kleine Unter­nehmen".

So sieht das in einem praktischen Fall aus:

Ein in Wien ansässiger Handelsbetrieb mit etwa 100 Beschäftigten; Fami­lien­unternehmen in dritter Generation. (Wobei diese dritte Generation in Ermangelung anderer beruflicher Interessen halt einfach in die Firma ein­ge­stiegen ist. Mit vergleichbar niedriger Motivation würden sie dort wohl nicht einmal eine Putzfrau anstellen.) Die Familie residiert seit Jahrzehnten in einer geräumigen Villa samt parkartigem Garten am Wiener Stadtrand. Eben ganz das "neue Pre­ka­riat" im Salomon'schen Sinne.

"Das sind halt die Leistungsträger", höre ich Salomon und Konsorten schon labern. Von wegen. Die Leistung lassen deren vermeintliche Träger von ihren Beschäftigten erbringen. Das sieht dann in besagtem Unternehmen zum Beispiel so aus, dass für einen bestimmten Mitarbeiterkreis einmal pro Monat eine Besprechung angesetzt ist – außerhalb der Dienstzeit (zwischen 18 und 22 Uhr) und unbezahlt (!). Oder es wird eine Fehlstunden-Statistik geführt, in der etwa Urlaube, Zeitausgleich und bei den Lehrlingen die Schulstunden großzügig mit eingerechnet werden.

Aber wir erinnern uns an Salomon: Es sind ja die Unternehmen, die "erbar­mungslos ausgequetscht" werden.

Und die Arbeitnehmer sollen gefälligst nicht nur den Mund halten, sie sollen sogar noch mehr arbeiten. Denn (so findet Salomon):

"Die gute Seite unseres Zeitalters: Körperlich anstrengende Jobs mit hoher Unfallgefahr gibt es immer weniger (was für einen späteren Pensionsantritt spricht)."

Der gierige Wunsch nach einem höheren Pensionsalter kommt in Salomons Texten ja bekanntlich regelmäßig vor. Was die Dame neuerlich ignoriert (obwohl ich sie schon in einem früheren Blog-Artikel darauf hingewiesen habe): Es gibt nicht nur ein körperlich, sondern auch ein psychisch an­stren­gendes Arbeitsleben; und die damit einhergehenden einschlägigen Proble­me, Beschwerden und Erkrankungen nehmen zu. 

Aber so etwas ist für Salomon natürlich kein Thema. Ebenso wenig wie beispielsweise die (statistisch nachgewiesene) hohe Zahl an geleisteten und unbezahlten Überstunden in Österreichs Betrieben, die Zunahme der bei immer mehr Arbeitnehmern (ausdrücklich oder stillschweigend) vorausge­setzten Rundum-Erreichbarkeit, die wachsende Ungleichheit bei den Ein­kom­mens- und Vermögensverhältnissen etc. etc. Kein Wort von all dem ist zu lesen – nicht einmal in einem Leitartikel zum 1. Mai.

Aber dafür folgende propagandistische Behauptung:

"[…] zur Würde des Menschen gehört nicht nur Mindestsicherung, sondern auch Arbeit."

Welche "Würde" die Arbeit – nämlich die unselbständige Lohnarbeit – ihren Erbringer/innen verschafft, habe ich soeben an ein paar Details illustriert. (Und zahlreiche weitere – teilweise noch weitaus schlimmere – Fakten ließen sich nennen.)

Salomon beschließt ihren Leitartikel mit folgender Botschaft:

"Hören wir doch auf, in Feiertagsreden so zu tun, als befänden wir uns noch im Zeitalter der Dampfmaschine. Es ist eigentlich gar nicht so schwer: 'Hört die Signale'!"

Stimmt schon: Im Zeitalter der Dampfmaschine befinden wir uns nicht mehr. Aber statt dessen in jenem, in dem der Neoliberalismus und eine ihm hörige, skrupel- und gesinnungslose Boulevard-Presse ihr schrankenloses Unwesen treiben. Die dabei ausgesendeten einschlägigen Signale sind unüberhörbar – auch wenn viele Menschen sie leider als Sirenengesang vermeintlich wohl­meinender Journalisten, Unternehmer oder Politiker (beiderlei Geschlechts) wahrnehmen (und sich dadurch in die Falle locken lassen).