Am
vergangenen Freitag (4. Mai 2018) hielt der Schriftsteller Michael Köhlmeier im
Zeremoniensaal der Wiener Hofburg eine Rede. Anlass war eine von den
Präsidenten der zwei Kammern des österreichischen Parlaments organisierte
Veranstaltung zum jährlich (am 5. Mai) stattfindenden
"Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des
Nationalsozialismus" (Näheres zum Gedenktag steht zum Beispiel auf der Webseite erinnern.at).
Als Zuhörer anwesend war unter Anderem ein Großteil der ÖVP-FPÖ-Bundesregierung. (Bundeskanzler Kurz war wegen Erkrankung nicht dabei.)
Als Zuhörer anwesend war unter Anderem ein Großteil der ÖVP-FPÖ-Bundesregierung. (Bundeskanzler Kurz war wegen Erkrankung nicht dabei.)
Ich finde,
dass bei dieser Rede – die viel Aufsehen erregte – einfach alles passt: An
vorderster Stelle natürlich ihr Inhalt; darüber hinaus war sie aber auch
goldrichtig in Hinblick auf die Veranstaltung, deren Rahmen und das Publikum.
Die Rede
wurde auch im Fernsehen übertragen und ist im Moment noch in der sogenannten
TV-Thek des ORF abrufbar. Weil Sendungen dort aber nur über (sehr) begrenzte
Zeit zur Verfügung gestellt werden, verlinke ich zu Youtube, wo jemand diesen
Fernsehmitschnitt dankenswerterweise hochgeladen hat: https://www.youtube.com/watch?v=mtyN7SrIiE0
Ich habe die
folgende Mitschrift von Köhlmeiers Rede angefertigt (ergänzt um ein paar Fußnoten
– insbesondere deshalb, um einige tagesaktuelle Bezugnahmen Köhlmeiers auch
noch in Zukunft verständlich zu halten):
"Sehr
geehrte Damen und Herren!
Präsident Sobotka hat mir Mut gemacht, als er gesagt hat,
man muss die Dinge beim Namen nennen. Und bitte erwarten Sie nicht von mir,
dass ich mich dumm stelle. Nicht an so einem Tag und nicht bei so einer
Zusammenkunft.
Ich möchte nur Eines: Den Ermordeten des NS-Regimes, von
deren Leben die jungen Damen und Herren vorhin so unglaublich eindringlich berichtet haben, in die Augen sehen können. Und sei es auch nur mit Hilfe Ihrer
und mit Hilfe meiner Einbildungskraft.
Und diese Menschen höre ich fragen: Was wirst Du zu jenen
sagen, die hier sitzen und einer Partei angehören, von deren Mitgliedern immer
wieder einige nahezu im Wochenrhythmus naziverharmlosende oder antisemitische
oder rassistische Meldungen abgeben; entweder gleich in der krassen
Öffentlichkeit oder klammversteckt in den Foren und sozialen Medien. Was wirst
du zu denen sagen?
Willst du so tun, als wüsstest du das alles nicht? Als
wüsstest du nicht, was gemeint ist, wenn sie ihre Codes austauschen. Einmal von
'gewissen Kreisen an der Ostküste' sprechen.1) Dann mit der Zahl 88
spielen.2) Oder wie eben erst den Namen 'George Soros' als Klick
verwenden zu Verschwörungstheorien in der unseligen Tradition der Protokolle
der Weisen von Zion. Der Begriff 'stichhaltige Gerüchte' wird seinen Platz
finden im Wörterbuch der Niedertracht und der Verleumdung.3)
Gehörst du auch zu denen, höre ich fragen, die sich
abstumpfen haben lassen? Die durch das gespenstische Immer-Wieder dieser
Einzelfälle nicht mehr alarmiert sind, sondern im Gegenteil das häufige
Auftreten solcher Fälle als Symptom der Landläufigkeit abtun; des Normalen, 'Des
kenn ma eh schon', des einschläfernden 'Ist nix Neues'.
Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem Schritt. Nie. Sondern mit vielen kleinen, von
denen jeder zu klein schien für eine große Empörung. Erst wird gesagt, dann
wird getan.
Willst du es dir – so höre ich fragen – des lieben Friedens
willen widerspruchslos gefallen lassen, wenn ein Innenminister wieder davon
spricht, dass Menschen 'konzentriert gehalten werden sollen'? 4)
Willst du feige die Zähne zusammenbeißen, wo gar keine Veranlassung
zur Feigheit besteht? Wer kann dir in deinem Land, in deiner Zeit schon etwas tun, wenn du die Wahrheit
sagst?
Wenn diese Partei, die ein Teil unserer Regierung ist, heute
dazu aufruft, dass Juden in unserem Land vor dem Antisemitismus mancher
Muslime, die zu uns kommen, geschützt werden müssen, so wäre das recht. Und
richtig. Allein – ich glaube den Aufrufen nicht.
Anti-Islamismus soll mit Philo-Semitismus begründet werden.
Das ist genauso verlogen wie ehedem die neonkreuzfuchtelnde Liebe zum
Christentum.5)
Sündenböcke braucht das Land.
Braucht unser Land wirklich Sündenböcke?
Wer traut uns solche moralische Verkommenheit zu?
Kann man in einer nahestehenden Gazette schreiben, die
befreiten Häftlinge aus Mauthausen seien eine 'Landplage' gewesen, und sich
zugleich zu Verteidigern und Beschützern der Juden aufschwingen? 6)
Man kann. Ja, man kann.
Mich bestürzt das Eine – das Andere glaube ich nicht. Und
wer das glaubt, ist entweder ein Idiot. Oder er tut so, als ob; dann ist er ein
Zyniker. Und beides möchte ich nicht sein.
Meine Damen und Herren, Sie haben diese Geschichten gehört,
die von den jungen Menschen gesammelt wurden. Und sicher haben Sie sich
gedacht: 'Hätten diese armen Menschen damals doch nur fliehen können.' Aber Sie
wissen doch: Es hat auch damals schon Menschen gegeben – auf der ganzen Welt –,
die sich damit brüsteten, Fluchtrouten geschlossen zu haben.7)
Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich heute vor Ihnen
sagen soll. Und mir wäre lieber gewesen, man hätte mich nicht gefragt, ob ich
sprechen will. Aber man hat mich gefragt, und ich empfinde es als meine
staatsbürgerliche Pflicht, es zu tun.
Es wäre so leicht, all die Standards von 'Nie wieder' und
bis 'Nie vergessen' – diese zu Phrasen geronnenen Betroffenheiten – aneinanderzureihen, wie es für Schulaufsätze vielleicht empfohlen wird, um eine gute Note
zu bekommen.
Aber dazu müsste man so tun, als ob. Und das kann ich nicht,
und das will ich nicht.
Schon gar nicht an diesem Tag, schon gar nicht bei dieser Zusammenkunft. Ich möchte den Opfern, die mit Hilfe der Recherchen und der
Erzählungen dieser jungen Menschen und mit Ihrer und mit meiner
Einbildungskraft zu mir und zu Ihnen sprechen und mir zuhören – ihnen möchte
ich in die Augen sehen können. Und mir selbst auch.
Und mehr habe ich nicht zu sagen. Danke."
___________________
1) Der in New York ansässige Jüdische
Weltkongress spielte 1986 bei der Aufdeckung und Verurteilung der Kriegsvergangenheit
des damaligen Bundespräsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim eine
entscheidende Rolle. In Österreich kam damals die Formulierung von
"gewissen Kreisen an der Ostküste" auf, welche
Waldheim – und in weiterer Folge Österreich – diffamieren würden.
2) Die Zahl 88 steht in der rechten
Szene als Kürzel für "Heil Hitler" (aufgrund des "H" als 8.
Buchstaben des Alphabets).
3) George Soros ist ein in Ungarn
geborener, aus einer jüdischen Familie stammender US-amerikanischer Investor. Einer
der beiden Klubobmänner der FPÖ, Johann Gudenus, hatte vor wenigen Tagen in
einem Zeitungsinterview gemeint, es gebe "stichhaltige
Gerüchte", wonach Soros daran beteiligt sei, "Migrantenströme nach
Europa zu unterstützen". Zu den Protokollen der Weisen von Zion siehe etwa
den Eintrag in der Wikipedia.
4) Der FPÖ-Innenminister Herbert Kickl
hatte im Jänner 2018 in einer Pressekonferenz erklärt, dass er sich dafür
ausspreche, Asylwerber künftig in Grundversorgungszentren unterzubringen. Dort
gelinge es, "diejenigen, die in ein
Asylverfahren eintreten, auch entsprechend konzentriert an einem Ort zu
halten" (s. etwa den Mitschnitt auf Youtube). Manche deuteten diese Formulierung als eine Anspielung auf
Konzentrationslager.
5) Ich vermute, mit
"neonkreuzfuchtelnde Liebe zum Christentum" spielt Köhlmeier auf eine
Aktion des FPÖ-Parteiobmanns und nunmehrigen Vizekanzlers Heinz-Christian
Strache im EU-Parlamentswahlkampf 2009 an: Strache trat mit einem Kreuz in der
Hand auf, um damit der damaligen FPÖ-Wahlkampfparole "Abendland in
Christenhand" Nachdruck zu verleihen.
6) In der Zeitschrift "Die
Aula" hieß es in der Ausgabe vom Juli/August 2015 in einem Artikel mit dem
Titel "Mauthausen-Befreite als Massenmörder" unter Anderem: "Die
Tatsache, dass ein nicht unerheblicher Teil der befreiten Häftlinge aus
Mauthausen den Menschen zur Landplage gereichte, gilt für die Justiz erwiesen
und wird heute nur noch von KZ-Fetischisten bestritten."
Die in Rede
stehende Zeitschrift ist laut FPÖ-Klubobmann Walter Rosenkranz ein "Organ
des Freiheitlichen Akademikerverbandes" bzw. "der -verbände" (so
Rosenkranz am 6. Mai 2018 in der Diskussionssendung
"Im Zentrum", ORF 2).
7) Sebastian Kurz (ÖVP) – der
nunmehrige Bundeskanzler – hatte sich in seiner Zeit als Außenminister zugute
gehalten, 2016 für die Schließung der sogenannten Balkanroute gesorgt und damit
die damaligen Flüchtlinge bzw. Migranten an der Weiterreise nach Mitteleuropa
gehindert zu haben. Siehe dazu auch meine Blog-Einträge Ein Loblied auf den Falschen, Überfordertes Österreich? sowie Orban, Kurz und Idomeni.