Mittwoch, 2. März 2016

Ein Loblied auf den Falschen

Soweit ich das seinen mir bekannten Leitartikeln entnehmen kann, ist der "Kurier"-Journalist Josef Votzi nicht mit der stellvertretenden Chef­redakteurin Salomon in denselben Topf zu werfen. (Ein Umstand, der uneingeschränkt für Votzi spricht.)

Und dennoch gibt es auch an seiner Art von Journalismus Grundlegendes zu bemängeln. Gezeigt werden soll dies anhand seines Leitartikels im "Kurier" vom 28. Februar 2016 (im Internet nachzulesen hier). Der Text trägt den Titel "Kurz kann mehr als Grenzen schließen".

Man tut sich schwer, den Text einzuordnen, weil er eine Art Quadratur des Kreises anstrebt: Votzi versucht krampfhaft (s)eine naive Bewunderung für den österreichischen Außenminister Sebastian Kurz mit eigenen humanen Überlegungen in Einklang zu bringen.

Dass ein derartiges Bemühen zum Scheitern verurteilt ist, muss jedem klar sein, der Kurz' Aktivitäten und Äußerungen allein in den letzten Wochen mitverfolgt hat. Weshalb sich Votzi dennoch zu dem Unterfangen hinreißen ließ, bleibt unerfindlich.

Den Leitartikel durchzieht eine ebenso penetrante wie peinliche Beweih­räucherung des Außenministers:

Da heißt es etwa:

"Es ist mehr als flapsig, wenn die 'Hamburger Morgenpost' in dicken Lettern titelt: «Dieser Bubi lässt [die deutsche Kanzlerin] Merkel alt aussehen». Nüchtern ist zu resümieren: Sebastian Kurz mischt die Flüchtlingspolitik weit über Österreich hinaus auf." 

"Sebastian Kurz hat beim Start als junger ÖVP-Integrationsstaatssekretär vor bald fünf Jahren Gegner und Skeptiker weit über die Parteigrenzen rasch so überzeugt: [...]" (Worauf sich Votzi dabei bezieht, werde ich weiter unten zitieren.)

"Österreichs Außenminister hat in der EU-Flüchtlingspolitik schon einmal als einer der Ersten Weitblick bewiesen." 

Solche Sätze ist man aus Wahlkampfbroschüren gewohnt – und selbst dort wirken sie lächerlich. Wenn man sie dann auch noch in sogenannten "unabhängigen" Zeitungen zu lesen bekommt, dann wird einem klar, wie unser Meinungsbild über Personen, die wir in aller Regel nicht persönlich kennen und von denen wir üblicherweise auch sonst nichts Näheres wissen, zustande kommt: indem jemand von den Medien zur Lichtgestalt hochgejubelt oder von ihnen als Versager/in abgestempelt wird. (Letzteres kommt in Bezug auf Politiker/innen häufiger vor. Bei Personen aus den Bereichen Kultur oder Sport dominiert eher das mediale Hochjubeln.)

Jedenfalls würde ich beispielsweise an Sebastian Kurz niemals "von selbst" irgendwelche besonderen Qualitäten wahrnehmen – aber da springen dann eben "hilfreich" die Medien ein und erklären uns, wen wir für einen tollen Politiker zu halten haben. (Je nach Medium, politischer Stimmungslage und anderen Faktoren können das natürlich auch verschiedene Personen sein.)

In vier Punkten sei erläutert, warum Votzis Loblied auf Sebastian Kurz völlig verfehlt und sein Leitartikel auch darüber hinaus misslungen ist.

1.

Votzi schreibt: 

"Der junge Außenminister hat schon im Spätsommer [2015] vor einem ungeregelten Zustrom [von Flüchtlingen] gewarnt. Damals war er damit in Regierung und ÖVP noch weitgehend allein. Mit 'Grenzzaun' und 'Obergrenze' ist das nun Regierungslinie." 

Offenbar darauf bezieht sich Votzi, wenn er gegen Ende des Artikels das bereits oben zitierte Kompliment ausspricht, dass Kurz "in der EU-Flücht­lings­politik schon einmal als einer der Ersten Weitblick bewiesen" habe.

Das kann man durchaus so sehen – wenn man Grenzzäune und Ober­grenzen bei der Flüchtlingseinreise und -aufnahme befürwortet. Das tut Votzi einerseits auch; ja er sympathisiert in diesem Zusammenhang sogar mit der Aufstellung von Panzern an der Grenze, denn er schreibt: 

"In Spielfeld wurden jüngst Panzer mit einem riesigen 'Räumschild' stationiert, um die Obergrenze notfalls auch mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Menschenräum-Panzer an der Grenze statt Blumen [zur Flüchtlingsbegrüßung] am Westbahnhof stehen symbolisch für die Wende der Asylpolitik.

Die Rück-Eroberung der Kontrolle darüber, wer in Österreich ein und aus geht, war überfällig." 

Wie soll man den letzten Satz anders deuten, als dass ihr Verfasser somit auch die von ihm unmittelbar zuvor erwähnten Maßnahmen – Grenzzäune, Obergrenzen und sogar Panzer – gutheißt?

Was Votzi da so schreibt, ist also alles schon mal reichlich unschön und erinnert irgendwie an Salomon (und an Kronen-Zeitung und ähnliche "Qualitätsblätter" sowieso). Umso überraschender ist, dass er im letzten Absatz eine völlig andere Sichtweise vertritt. Dort meint er dann nämlich: 

"Mit der Fixierung von Obergrenzen beginnt sich nun die Untergrenze von Mitgefühl und Menschlichkeit schleichend nach unten zu verschieben." 

Der Satz ist natürlich schon sprachlich verunglückt: Heißt eine Verschiebung der Untergrenze "nach unten" mehr oder weniger Menschlichkeit bzw. Mitgefühl? Aus dem Zusammenhang heraus muss klarerweise angenommen werden, dass Votzi Letzteres meint – denn die Fixierung von Flüchtlings-Obergrenzen lässt sich unmöglich als ein Zuwachs dieser Tugenden (oder als Anreiz dafür) qualifizieren. Gehen wir also davon aus, dass Votzi an dieser Stelle seines Kommentars eine humane Überlegung zum Ausdruck bringen wollte; eine Art Mahnung oder Kritik, dass Menschlichkeit und Mitgefühl immer mehr abhanden kommen – bewirkt (?) oder zumindest ausgelöst durch die Fixierung von Flüchtlings-Obergrenzen. Konzedieren wir auch, dass das von ihm ehrlich gemeint ist.

Aber wie passt das dann mit der ein paar Absätze zuvor von ihm mit Genugtuung getroffenen Feststellung zusammen, dass die Rückeroberung der Kontrolle über Ein- und Ausreise überfällig war? Wo sich doch diese "Rück-Eroberung" gerade eben auf Flüchtlings-Obergrenzen, Grenzzaun und Panzer stützt. Alternative Maßnahmen nennt Votzi ja keine. Sind Obergrenzen (plus Panzer und Zäune) für ihn jetzt positiv (weil sie Kontrolle rückerobern) oder negativ (weil sie Mitgefühl und Menschlichkeit reduzieren)?

2.

Noch eine zweite Stelle gibt es in Votzis Kommentar, an welcher er eine an Humanität orientierte Überlegung anstellt: 

"Dass die Mehrheit der 28 EU-Staaten sich feige wegduckt und keinen einzigen Flüchtling auf- oder übernimmt, bleibt eine Schande.

Eine neue Schande droht nun in Griechenland. Mit Schließung der Balkanroute, warnen Geheimdienste, könnten binnen drei Wochen bald 50.000 neue Flüchtlinge stranden. Athen ist jetzt schon überfordert." 

Diesen Kritikpunkten Votzis ist uneingeschränkt zuzustimmen. Aber paradoxerweise ist gleichzeitig zu konstatieren, dass sie in seinem Leitartikel fehl am Platz sind! Denn dieser ist bekanntlich als Lobeshymne auf Außenminister Kurz angelegt.

Würde Kurz "die Flüchtlingspolitik weit über Österreich hinaus auf(mischen)" (wie Votzi meint) – und zwar in einem positiven Sinn –, dann hätte das primär in seinem Engagement und allfälligen Erfolgen darin bestehen können und sollen, dass sich eben nicht mehr so viele EU-Staaten einfach feige wegducken. Von einschlägigen Bemühungen des Außen­minis­ters ist jedoch nichts bekannt – und wenn es sie gab, so waren sie jedenfalls auf der ganzen Linie erfolglos. Ein etwaiges Aufmischen der Flüchtlingspolitik durch Kurz besteht also lediglich darin, dass er durch den von ihm angezettelten Dominoeffekt die Situation am Südbalkan und in Griechenland dramatisch verschärft hat, indem er ganz bewusst, verant­wortungslos und menschenverachtend in dieser Region einen Rückstau an Flüchtlingen maßgeblich mitverursacht hat.

Und damit sind wir bei der anderen humanen Überlegung Votzis: Ja, es ist eine Schande, dass nun so viele Flüchtlinge in Griechenland festsitzen. Und Übeltäter dieser Schande ist jener österreichische Außenminister, von dem Votzi allen Ernstes behauptet, er hätte "Weitblick" in der Flüchtlingspolitik! Der Blick von Herrn Kurz reicht gerade Mal bis zur Staatsgrenze nach Spielfeld – mit Sicherheit nicht bis Mazedonien oder Griechenland.

3.

Auch in einem weiteren Punkt liegt Votzi mit seiner Beweihräucherung des Außenministers komplett daneben: 

Wie schon oben erwähnt, meint Votzi, dass Kurz schon vor mehreren Jahren "Gegner und Skeptiker weit über die Parteigrenzen rasch [...] überzeugt" hätte; und zwar auf diese Weise: 

"Klar in der Sache, aber verbindlich im Ton, gelang es dem politischen Ausnahmetalent der Schwarzen, das Monopol der Blauen in der Ausländerfrage zu brechen – ohne dabei nur eine Sekunde deren xenophoben Ton zu übernehmen." 

Prägnante Antwort darauf:
Miese Inhalte werden nicht dadurch besser, dass sie in anderem Ton präsentiert werden: Wenn Bierzelt-Rhetorik durch näselnd-weinerlichen Singsang in Schönbrunner-Deutsch ersetzt wird, ändert das nichts in der Sache.

Die ausführlichere Antwort:
Wer (vermeintlich oder tatsächlich) imstande ist, das Monopol der Blauen in der Ausländerfrage zu brechen, dem gelingt das nur dadurch, dass er im Wesentlichen deren Ideologie vertritt oder – noch schlimmer – sie in reale Politik umsetzt. Das macht eben ein ÖVP-Politiker Kurz auf Bundesebene oder etwa ein SPÖ-Landeshauptmann Niessl im Burgenland auf Landesebene. Wäre denn vorstellbar, dass ein etwaiger FPÖ-Außen­minis­ter viel anders agieren würde als Sebastian Kurz? Kaum. Worin der qualitative Unterschied zwischen Blau und Blau in Pseudo-Schwarz (oder Blau in Pseudo-Rot) bestehen soll, bleibt also unerfindlich.

Dass Kurz – laut Votzis Behauptung –  auf den xenophoben Ton verzichte, ist somit eine kosmetische, aber keine inhaltliche Frage. Im Übrigen hat er einen solchen Ton auch gar nicht notwendig: Wozu xenophob kläffen, wenn man ohnedies die Möglichkeit zum Zubeißen hat?

4.

Die letzten zwei Sätze in Votzis Leitartikel sind wieder besonders eigenartig. Sie lauten: 

"Kurz stand nie mit dem Schild 'Refugees welcome' am Westbahnhof. Wenn er sich treu bleiben will, kann er sich auch nicht bei jenen einreihen, die jetzt 'Refugees, go home' skandieren." 

Dass soll also eine Art Mahnung für Kurz sein – offenbar als kleiner Alibi-Kontrapunkt zu dem in all den Zeilen davor gesungenen Loblied auf das "politische Ausnahme­talent". Der Schluss des Leitartikels korrespondiert mit dessen Untertitel, der da lautet: 

" 'Grenzzaun' und 'Obergrenzen' stehen. Kurz tut gut daran, sich auch um fallende Schamgrenzen zu kümmern." 

Was man da nicht schon wieder alles dazu anmerken kann:

• Votzi unterscheidet anscheinend zwischen den politisch gesetzten Maßnahmen (Grenzzaun, Obergrenze, Panzer usw.) einerseits und "fallenden Schamgrenzen" andererseits. Erstere findet er offenbar gut (auch wenn das merkwürdig unklar und unlogisch bleibt). Letztere – also die "fallenden Schamgrenzen" – werden von ihm nicht näher konkretisiert (vermutlich meint er eine zunehmende Ausländerfeindlichkeit in der Bevölkerung bzw. den von ihm angesprochenen Verlust an Mitgefühl und Menschlichkeit; im Text spricht er auch von einem "Mir-san-mir-Patriotismus" und "Rückfall in billiges Griechen-Bashing"); jedenfalls goutiert er das Fallen der Schamgrenzen nicht.

Auf die Idee, dass vermeintliche ministerielle Wohltat (in Form von Grenzzäunen, Dominoeffekten etc.) und xenophobe Plage (in Form von "Refugees, go home"-Rufen, "Mir-san-mir-Patriotismus" usw.) in einer Art Symbiose koexistieren, ja dass sie vielleicht nur zwei Seiten ein und derselben Medaille sind (gleichsam die regierungspolitische und die durchschnittsbürgerliche Seite) – auf diese Idee kommt Votzi anscheinend gar nicht. 

(Er sollte sich mal im Internet bei seinem Leitartikel die Kommentare der Leser/innen ansehen: Da wird er schnell merken, wie viel Applaus Kurz gerade aus jener Ecke bekommt, von der er [Votzi] naiv meint, dass der Außenminister ihr nicht zugehöre, sondern gleichsam gegenüberstehe.)

• Weil er solche Zusammenhänge nicht sieht (oder nicht sehen will), verfällt Votzi auf die merkwürdige bis paradoxe Idee, an Sebastian Kurz gleichsam als Retter und Bewahrer der fallenden Schamgrenzen zu appellieren. So in der Art: "Danke, dass du wunderbarer Ausnahmepolitiker eine so tolle Flüchtlingspolitik betreibst; aber bitte kümmere dich auch um die ungezogenen Rabauken im eigenen Land."

Wer eins plus eins zusammenzählen kann (oder wer auch nur meine Überlegungen in diesem Eintrag liest), dem wird klar sein, dass so etwas von Kurz nicht zu erwarten ist. Aber selbst wenn es das wäre: Wie sollte denn sein "Kümmern" um die fallenden Schamgrenzen praktisch aussehen? Der Mann ist Außenminister. Da kann er zwar viel Unheil anrichten, was Flüchtlinge und Flüchtlingspolitik betrifft (was er ja auch ausgiebig tut); aber für Ordnungsrufe an xenophobe und chauvinistische Einheimische ist er jedenfalls kraft seiner Funktion nicht zuständig.

• Und jetzt endgültig zur konstatierten besonderen Eigenartigkeit der beiden letzten Sätze in Votzis Kommentar: Kurz sei nie mit dem Schild "Refugees welcome" am Westbahnhof gestanden, womit (zutreffend) gemeint ist, dass der Außenminister nie eine Willkommenshaltung gegenüber den Flüchtlingen an den Tag gelegt habe. Und dann meint Votzi, dass Kurz "(w)enn er sich treu bleiben will", "sich auch nicht bei jenen einreihen (kann), die jetzt 'Refugees, go home' skandieren." 

Wieso sollte er das (schon rein logisch betrachtet) nicht können? Gerade jemand, der niemals "Refugees welcome" gerufen hat, kann (allenfalls) "Refugees, go home" skandieren, ohne seiner Einstellung untreu zu werden. Flüchtlinge nicht willkommen zu heißen, kann doch problemlos damit Hand in Hand gehen, sie wieder nach Hause schicken zu wollen.

Aber ganz abgesehen von diesen allgemeinen Überlegungen. Kurz hat sein "Refugees, go home" schon längst skandiert – nicht im "xenophoben Ton", der sensiblen Journalisten so missfällt, sondern durch handfeste Taten, wie insbesondere die Restriktionen für die Einreise von Flüchtlingen nach Österreich samt dem dadurch explizit beabsichtigten und eingetretenen "Dominoeffekt" in Südosteuropa.

Für dieses "Refugees, go home" wird man allerdings von Votzi zum "Aus­nah­me­politiker" mit "Weitblick" geadelt.

Was ist das für ein Journalismus, der geprägt ist durch eine Kombination aus lauter Unlogik, einer Prise Humanität und reichlichem Personenkult – noch dazu für genau den Falschen?