Dienstag, 9. Mai 2017

Tabubruch und Rückzieher

Vom österreichischen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen war ich angenehm überrascht, als vor ein paar Tagen eine Äußerung bekannt wurde, die er (offenbar schon vor einiger Zeit) zum Thema "Kopftuch" gemacht hatte.

Sie war in einer Diskussion vor Jugendlichen im Haus der Europäischen Union in Wien gefallen, und der Mitschnitt wurde in der ORF-Fernseh­sendung "Report" am 25. April 2017 wiedergegeben (auf Youtube ist er hier abrufbar: https://www.youtube.com/watch?v=FJ260SnjsWY).

Van der Bellen meinte – und diese Worte halte ich für goldrichtig:

"Es ist das Recht der Frau sich zu kleiden, wie auch immer sie möchte. Das ist meine Meinung dazu. Im übrigen nicht nur muslimische Frauen; jede Frau kann ein Kopftuch tragen. Und wenn das so weitergeht – und damit bin ich schon bei der nächsten Frage, bei dieser tatsächlich um sich greifenden Islamophobie –, wird noch der Tag kommen, wo wir alle Frauen bitten müssen, ein Kopftuch zu tragen. Alle! Als Solidarität gegen­über jenen, die es aus religiösen Gründen tun."

Das sind für jeden unvoreingenommen und solidarisch denkenden Menschen eigentlich völlig unspektakuläre, naheliegende, ja geradezu selbstver­ständ­liche Überlegungen. In einem Land wie Österreich stellen sie hingegen einen Tabubruch dar, und sie lösten erwartungsgemäß eine Welle der Kritik, des Unmuts und der Empörung aus.

Und auch die nunmehrige Reaktion des Bundespräsidenten darauf ist leider typisch österreichisch: Feigheit.

Es ist ja schon bezeichnend, in welchen beiden "Qualitätszeitungen" Van der Bellen seine völlig deplatzierte Reue zuerst zum Ausdruck brachte: in der "Kronen-Zeitung" und in "Österreich". Hinzu kam der "Kurier" (möglicher­weise auch noch andere Blätter).

Van der Bellen tourt als Büßer durch alle möglichen Zeitungen, und es ist ein armseliges Schauspiel, das er dabei abliefert: Er windet sich, gesteht einerseits Fehler, andererseits aber doch wiederum nicht; er deutelt an sich und an Situationen herum, und er lässt zwei Qualitäten vermissen: Rückgrat und Courage.

Hier eine Wiedergabe der einschlägigen Zitate, soweit sie mir zur Verfügung stehen:

1.
In der Zeitung "Österreich" vom 5. Mai 2017 (Seite 7) meint Van der Bellen:

"Mir ging es ungeachtet der missglückten Kommunikation, schlicht um Freiheitsrechte. Jede erwachsene Frau hat das Recht, sich zu kleiden, wie sie will. Ich verstehe, dass der Zwang zum Kopftuchtragen in anderen Ländern Frauen erzürnt, aber die Antwort kann nicht sein, es zu verbieten.

[…] Das stimmt sicher [Anm.: dass viele Frauen das Kopftuch nicht freiwillig tragen]. Insbesondere junge Mädchen werden von ihren Vätern dazu genötigt. Dem müssen wir mit Aufklärung entgegenwirken. Ich habe das alles ja bei einer Diskussion mit Schülern und Schülerinnen gesagt. Da ver­gisst man, dass mitgeschnitten wird. Da fühle ich mich im Hörsaal, verhalte mich ungezwungen wie früher und sage Dinge, die man sonst so nicht sagt. Diese Schuld nehme ich auf mich. Ich muss mir wohl stärker bewusst sein, dass der Hörsaal eine Sache ist, und das Amt des Bundespräsidenten eine andere."

Und dann meint er auf die Frage der Zeitung: "Wenn Sie in der Sache dabei bleiben – war es ein Fehler?":

"Ja, es war ein Fehler. Es ist dadurch etwas entfesselt worden, was auch eine gewisse Empörungskultur befördert hat."

2.
Was Van der Bellen zur Kronen-Zeitung gesagt hat, liegt mir nur über deren Online-Ausgabe vor. Dort steht das in einer konfusen Mischung aus Zitaten Van der Bellens (teils im Wortlaut, teils in indirekter Rede) mit wertenden Kommentaren des Zeitungsredakteurs (Claus Pándi). Es heißt unter Anderem (datiert mit 4. Mai 2017):

"«Hin und wieder wird man auch etwas sagen müssen, wo man im Moment viel Kritik einsteckt. Aber auf Dauer wird vielleicht doch verstanden, was man eigentlich sagen wollte.» Über diesen sprachlichen Umweg versucht Bundespräsident Alexander Van der Bellen im Gespräch mit der «Krone» am Donnerstag eine Erklärung für sein missverständliches, manche meinen eher verunglücktes Beispiel mit dem Kopftuch  und dem Davidstern in der NS- Zeit zur heutigen Lage der Muslime. «Es war mein Fehler, wenn man so will», sagt das Staatsoberhaupt."

[…]
Rückblickend, so gibt das Staatsoberhaupt zu verstehen, mag der Fehler mehr in der Formulierung gelegen sein, die aus dem Anlass gerissen einen falschen Eindruck erzeugt habe. […]" 

3.
Im Kurier vom 5. Mai 2017 (Seite 4) klingt es so:
(online:

"Wir haben in Österreich Religions-, Meinungs- und Bekleidungsfreiheit. Das steht alles im Verfassungsrang, das war auch mein wesentlicher Punkt bei dieser umstrittenen Aussage. Wenn Grund- und Freiheitsrechte in Frage gestellt werden, ist es meine Aufgabe für diese Grundrecht einzutreten.

[…] Das ist mir natürlich bewusst. [Anm.: nämlich, dass es in Ländern, wo das Tragen von Kopftüchern Pflicht ist, etwa in Saudi-Arabien, keine Grund- und Freiheitsrechte gebe] Das kann aber für uns kein Grund sein, Frauen zu nötigen, kein Kopftuch zu tragen.

[…]
Jede Frau kann zwar ein Kopftuch tragen. Aber in der Diskussion, die in Bild und Ton mitgeschnitten wurde – was ich in der Hitze des Gefechts nicht gemerkt habe und das war mein Fehler – ging es um etwas anderes."

Und dann auf die Frage des Interviewers: "War auch Ihre Aussage ein Fehler oder nur, nicht bemerkt zu haben, dass eine Kamera und ein Tonband mitlaufen?":

"Der Fehler war, dass man anders redet, wenn man weiß, dass mitge­schnitten wird und dass daraus ein Satz herausgepickt werden kann, um einen Sturm der Entrüstung auszulösen. Ein Freund hat mir hinterher gesagt: Du darfst eine Vorlesung im Hörsaal nicht mit einem Auftritt des Bundespräsidenten verwechseln. Das kann schon sein, dass mir das passiert ist. Aber Kern der Sache bleibt: Ich habe das alles zu einer Schülerin gesagt, die wegen ihres Kopftuches angepöbelt wurde und sich Sorgen machte, wegen ihres Kopftuches am Arbeitsplatz diskriminiert zu werden."

Wieder der Interviewer: "Die größte Irritation hat ausgelöst, dass Ihr Sager beim besten Willen nicht als ironisch gedeutet werden konnte. Sie haben das Tragen eines Kopf­tuchs zudem mit dem Tragen eines Davidsternes im Dritten Reich verglichen. War das ein Fehler?" Und darauf Van der Bellen:

"Es war ein Fehler, das so zu sagen. Mir ging es darum, ein Beispiel für zivilen Widerstand gegen die Einschränkung von Grundrechten zu finden. Aber das Beispiel des Judensterns hätte ich besser bleiben lassen sollen. Solche Vergleiche sind unangebracht."

Um den letzten Punkt soll es nicht gehen. (Angeblich handelt es sich um eine Bezugnahme Van der Bellens auf Dänemark zur Zeit der deutschen Besatzung, wo sich die einheimische nicht-jüdische Bevölkerung aus Solidarität mit den Juden einen Davidstern angeheftet haben soll.) Ein Originalmitschnitt der betreffenden Äußerung des Bundespräsidenten scheint nicht zu existieren, und schon deshalb ist es nicht möglich, sich mit ihr fundiert zu befassen. Daher sei Van der Bellen zugestanden, dass in diesem konkreten Punkt sein Eingeständnis eines Fehlers berechtigt ist.

Für alles Übrige gilt das hingegen nicht: Er hätte in den diversen Interviews jeweils klipp und klar feststellen können (und sollen), dass er nichts von dem zurückzunehmen hat, was er in der Diskussion mit den Jugendlichen sagte (und als Mitschnitt vorliegt); dass er es also uneingeschränkt aufrechterhält  – und zwar sowohl inhaltlich (in der Sache) als auch sprachlich-formu­lie­rungsmäßig. Statt dessen kommt aber ein Eingeständnis vermeintlicher Fehler, "missglückter Kommunikation" und dergleichen mehr, obwohl nicht der geringste Grund dafür besteht.

Der negative Eindruck über Van der Bellens völlig deplatzierte Selbstkritik verstärkt sich noch, wenn man dem Glauben schenken darf, was Hans Bürger (der Chef der Innenpolitik-Redaktion der "Zeit im Bild") in der Nach­rich­tensendung "Zeit im Bild 1" vom 5. Mai 2017 über den Bundes­präsi­denten in Zusammenhang mit der Kopftuch-Äußerung sagte:

"Er [Van der Bellen] ärgert sich selbst am meisten, hört man aus seiner Umgebung. Er hofft, dass ihm so etwas nie wieder passiert. Er hat den Fehler auch zugegeben, […]"

Fazit:
Angst vor der eigenen Courage, keine Standhaftigkeit, kleinkariert, konflikt­scheu.

Insofern ein Bundespräsident, der gut zu Österreich passt: Er repräsentiert damit charakteristische Untugenden eines Großteils der Bevölkerung.

Und wo ist auch nur eine einzige prominente Stimme in diesem Land, welche die aufgezeichnete Äußerung Van der Bellens ausdrücklich befürwortet hätte? Mir ist zumindest keine solche Stimme bekannt. Soweit es nicht ohnedies (massenhaft) Kritik an der Äußerung gibt, herrscht großes Schweigen.