Freitag, 27. März 2015

Medien und Privatsphäre (Der Elefantenmensch von heute)

Wenn ich in diesem Blog-Eintrag die mediale Niedertracht kritisieren werde, so geht das selbstverständlich in zweierlei Hinsicht über die Einzelfälle hinaus, auf die ich mich dabei beziehe:

a) Konkret belegt wird die Kritik anhand der österreichischen Tageszeitung "Kurier". Übertragbar ist sie aber natürlich auf wohl so gut wie alle Boule­vard-Medien (die öffentlich-rechtlichen leider inbegriffen, zumindest in abge­schwächter Form).

b) Das Ereignis, um das es geht (der jüngste Flugzeugabsturz in den franzö­sischen Alpen), steht exemplarisch für viele andere Vorkommnisse (wie Unglücksfälle, Verbrechen, "Skandale" usw.), bei denen von den Medien mit der Privatsphäre sowie mit den Empfindungen der Täter und/oder der Opfer und/oder deren Angehöriger skrupellos Schindluder getrieben wird.

Am vergangenen Dienstag raste ein deutsches Passagierflugzeug in den französischen Alpen gegen einen Berg. Alle 150 Personen, die an Bord waren, fanden den Tod. Durch Auswertungen des Flugschreibers stellte sich bald heraus, dass der Co-Pilot zum Zeitpunkt des Unglücks allein im Cockpit war, er den Piloten vermutlich an der Rückkehr ins Cockpit gehindert und das Flugzeug bewusst und in selbstmörderischer Absicht gegen die Felsen gesteuert hat.

Das war – aufs Wesentliche zusammengefasst – der Informationsstand von heute (Freitag) Früh bzw. der Nacht davor, in der jene Ausgabe des "Kurier" in Druck ging, auf die ich mich beziehen werde. (Nach Informationen, die im Laufe des heutigen Tages hinzukamen, soll der Co-Pilot am Tag des Fluges ärztlich krank geschrieben gewesen sein, diesen Umstand jedoch ignoriert und dem Dienstgeber verschwiegen haben.)

Das ist eine Abbildung der oberen Hälfte von Seite 2 des "Kurier" von heute Freitag, 27. März 2015:



Wie man an den schwarzen Flächen erkennen kann, habe ich die Abbildung an drei Stellen gleichsam zensuriert – also das getan, was von den heuchlerischen Medien so gern als Anschlag gegen Pressefreiheit und Demo­kratie gebrandmarkt wird.

Diese Zensur ist notwendig und richtig, weil sie genau jene Stellen betrifft, die ich dem "Kurier" (und mit ihm dem gesamten gleichartig agierenden Boulevard) zum Vorwurf mache:

a) An zwei von mir geschwärzten Stellen (wie auch mehrfach in der Repor­tage selbst) steht (in abgekürzter Form) der Name des Co-Piloten, der das Flugzeug ins Unglück gesteuert hat – und zwar steht dort jeweils der Vorname und "nur" der erste Buchstabe des Familiennamens; aber auch dafür besteht keinerlei Notwendigkeit. (Wie eigenartig der Kurier mit der Namensveröffentlichung umgegangen ist, werde ich unten noch kurz erläu­tern.)

b) Das Foto zeigt gleichsam in voller (sitzender) Größe diesen Piloten – einschließlich seines unverpixelten, also zur Gänze erkennbaren Gesichts! Auch das wurde von mir aus dem Bild entfernt.

Die Kernfragen – und deren Antworten – lassen sich damit bereits formulie­ren:

• Welchen Sinn hat die Veröffentlichung des Fotos und des Namens (egal, ob abgekürzt oder nicht)? – Keinen, absolut keinen.

• Welchen Zwecken dient (dennoch) eine solche Veröffentlichung? – Den niedrigsten: der Befriedigung einer dumpfen Sensationslüsternheit und eines deplatzierten Voyeurismus der medienkonsumierenden Masse und damit spiegelbildlich einer Steigerung der Auflagenzahlen bzw. Quoten eben dieser Medien.

• Sind die Veröffentlichungen rechtlich gedeckt? – Wie zu befürchten ist: Ja. Womit (wieder einmal) ein Beispiel dafür vorliegen würde, dass Recht oft nichts mit Gerechtigkeit, Schutz des Schwächeren und Moral zu tun hat, sondern häufig den (unredlichen) Interessen der "falschen Seite" dient.

• Sind die Veröffentlichungen moralisch gerechtfertigt? – Meiner festen Über­zeugung nach: nicht im Geringsten. Die Medien erklären nicht nur den Co-Piloten (als Täter) für gleichsam vogelfrei (was allein schon moralisch fragwürdig wäre). Es ist ihnen darüber hinaus auch völlig gleichgültig, dass sie die Privatsphäre der Hinterbliebenen (also jedenfalls der Eltern, möglicherweise auch von Geschwistern, vielleicht ebenso einer Partnerin) schwerst beeinträchtigen – und zwar gleich auf zwei Ebenen:

- Einerseits durch Preisgabe der privaten Daten. Zusätzlich zum Namen des Co-Piloten wird in den Medienberichten (natürlich auch in der Kurier-Repor­tage) die Ortschaft genannt, in welcher er mit seinen Eltern lebte – und das ist wohlgemerkt nicht irgendeine anonyme Großstadt, sondern ein Ort in Deutschland mit markantem Namen und nur knapp 13.000 Einwohnern; womit Herkunft und geographisches Umfeld des Täters und der Angehöri­gen für jedermann und weltweit mühelos identifizierbar sind.

- Andererseits kommt zu dieser handfesten praktischen Verletzung der Privatsphäre die gleichsam psychologische: Die Hinterbliebenen des Co-Piloten müssen – zusätzlich zu allem anderen Leid, dem sie nach dem Flug­zeugunglück und dem Bekanntwerden der Ermittlungsergebnisse ausgesetzt sind – auch noch damit fertig werden, dass die Medienmeute Name und Foto des toten Sohns (und allenfalls Bruders bzw. Partners) großflächig in den Zeitungen (bzw. auf den Bildschirmen) platziert, garniert mit Aufnahmen oder auch Filmberichten vom Wohnort (dem sowieso) bis hin zum konkreten Wohnhaus der Familie. Für die Täterseite scheint so eine Art Sippenhaftung zu gelten: Diskretion, Rücksichtnahme oder Pietät sind für die Medien irrele­vant, wenn es um die Angehörigen eines Täters geht.

Damit sind die grundlegenden Dinge gesagt.

Vertiefen kann man all das jetzt noch anhand der konkreten Kurier-Ausgabe vom 27. März:

Wie in der obigen Abbildung zu sehen ist, hat der "Kurier" in das groß­formatige Foto des Co-Piloten auch gleich eine knallige Artikel-Über­schrift in Riesenlettern gesetzt:

"Junger Co-Pilot als Massenmörder"

Dass er 149 Menschen durch sein Verhalten in den Tod gerissen hat, ist (nach derzeitigem Erkenntnisstand) zwar unbestreitbar. Aber gerade deshalb weiß man das als Leser/in auch ohne eine derartige Überschrift, mit der – in bester (= schlechtester) Boulevard-Manier – das Thema einfach emotional angeheizt werden soll. Man hätte ja auch schreiben können "Junger Co-Pilot als Verursacher des Flugzeugabsturzes" oder meinet­wegen "Junger Co-Pilot als bewusster Verursacher des Unglücks". Aber wer wird denn schon so "unprofessionell"-spießig-sachlich formulieren? "Massenmörder" – das hat doch gleich einen ganz anderen Klang!

Auch Helmut Brandstätters Leitartikel auf derselben Seite – links vom Pranger-Foto des "Massenmörders" – liefert bemerkenswerte Einblicke in journalistisches Denken und Handeln. Zunächst finden sich in dem Text natürlich all die Floskeln und Leerformeln, die man jetzt allerorts lesen kann ("Menschliche Abgründe dieser Art bleiben unerklärlich" und ähnliches Blabla). Von Interesse ist jedoch der Schluss von Brandstätters Kommentar. Dort heißt es:

"Die Krisen-PR der französischen Behörden und der deutschen Lufthansa war vorbildlich. Alles, was bekannt war, wurde sogleich der Öffentlichkeit mitgeteilt, auch der Name des Co-Piloten. Das war richtig. Dass es Menschen gibt, die im Internet die Familie des Mannes bedrohen, zeigt nur, dass in den neuen sozialen Medien eben auch Verrückte aller Art ihren Auftritt haben. Aber durch die offene Kommunikation konnten keine Verschwörungstheorien entstehen. […]"

Diese Einschätzung Brandstätters mag zwar im Großen und Ganzen zutreffen. In einem bestimmten Detail – und zwar einem ganz wesentlichen – ist sie jedoch komplett verfehlt. Nämlich dort, wo er sich auf die Mitteilung des Namens des Co-Piloten bezieht und diese als "richtig" bezeichnet.

Ich bin jetzt auch mal unseriös und unterstelle dem Herrn Chefredakteur unredliche Absichten, wenn er so etwas "richtig" findet: Er versucht durch die Vorgangsweise der Behörden den eigenen medialen Umgang mit den privaten Details des Co-Piloten gleichsam zu legitimieren.

Was an Brandstätters Argumentationsversuch stimmt, ist lediglich ein zugrundeliegendes Faktum: In der Tat hat zunächst der französische Staatsanwalt in einer Pressekonferenz den vollen Namen des Co-Piloten (mehrfach) genannt und ihn an einer Stelle sogar buchstabiert. Diese Pressekonferenz wurde von einem deutschen Nachrichtensender live übertragen, und vom ersten Moment an hatte mich verwundert, dass der Staatsanwalt den Namen so freizügig bekanntmachte. Insofern haben sich die weltweiten Medien (mit der Namensveröffentlichung) tatsächlich einer Vorgangsweise angeschlossen, die ursprünglich durch ein behördliches Organ praktiziert wurde. Nur macht behördliche Ungeschicklichkeit bzw. Dummheit (so würde ich das Verhalten des französischen Staatsanwalts interpretieren) das Agieren der medialen "Nachahmungstäter" nicht besser – zumal diese zweifellos alles andere als aus Ungeschicklichkeit oder Dummheit gehandelt haben.

Was Brandstätter schuldig bleibt, ist eine Begründung seiner Behauptung, dass die Namensveröffentlichung durch die Behörde "richtig" gewesen sei. Wenn er meint, dass durch "die offene Kommunikation (…) keine Verschwörungstheorien entstehen (konnten)", so mag das für die Informationen über die Ursache des Flugzugabsturzes und über den Ablauf des Geschehens in den Minuten vor dem Unglück gelten, aber doch nie und nimmer für einen Namen. Welche Verschwörungstheorie hätte dadurch zustande kommen können, dass der Staatsanwalt die Nennung des Piloten-Namens unterlassen hätte?

Und selbstverständlich macht es sich Brandstätter auch viel zu leicht, wenn er nonchalant meint, dass Drohungen im Internet gegen die Familie des Co-Piloten "nur" (!) zeigen würden, "dass in den neuen sozialen Medien eben auch Verrückte aller Art ihren Auftritt haben". Das wird schon so sein. Aber muss man den Verrückten auch noch weiteren Aktionsspielraum eröffnen, indem man den Namen des Betreffenden und den Wohnort der Hinterbliebenen veröffentlicht (und dann auch noch durch Schlagzeilen wie "Junger Co-Pilot als Massenmörder" irrationale Stimmungen anheizt)?

Oder ist das aus Sicht der Medien(macher) vielleicht überhaupt anders – nämlich zynischer – zu sehen? Nämlich ungefähr so: "Wer einen «Massen­mörder» in der Familie hat, der muss eben auch mit Reaktionen von Verrückten rechnen. Pech gehabt. Wir – die Medien – werden uns deshalb keine Beschränkungen bei der Preisgabe persönlicher Daten oder beim Tonfall auferlegen."

Mit den Beschränkungen ist das übrigens eine ganz eigenartige Sache – die offenbar damit zusammenhängt, dass die Rechtsordnung den Medien in solchen Belangen viel zu viel Spielraum im Interesse einer völlig falsch verstandenen Presse- und Informationsfreiheit lässt. Hier ein paar diesbe­zügliche Beispiele aus eigener Wahrnehmung:

• In der oben erörterten gedruckten Ausgabe des "Kurier" vom 27. März 2015 (Seite 2) erscheint das Photo des Co-Piloten wie erwähnt ohne Unkenntlichmachung des Gesichts, also unverpixelt. Sein Familienname ist mit dem Anfangsbuchstaben abgekürzt (der Vorname ausgeschrieben).

• Exakt dasselbe Photo (nebst einem weiteren) wird am Abend des 27. März in der ORF-Nachrichtensendung "Zeit im Bild" eingeblendet. Der ORF hat jedoch das Gesicht auf beiden Photos unkenntlich gemacht. (Gleiches glaube ich in den Nachrichtenprogrammen deutscher Sender gesehen zu haben.)

• Bereits gestern habe ich einen Blick auf diverse Internet-Ausgaben deutschsprachiger Zeitungen geworfen. Dort musste ich zu meiner Verwunderung feststellen, dass sogar sogenannte Qualitätsmedien wie "FAZ" oder "Zeit" in ihren Online-Ausgaben ganz ungeniert den vollen Namen des Piloten veröffentlichten. (Nach etwaigen Fotos habe ich nicht geforscht.)
Eigenartig war die diesbezügliche Vorgangsweise des "Kurier": In einem Online-Artikel mit dem Titel "Wieso flog der Co-Pilot in den Tod?" fand sich in einer (zB. via Google-Cache weiterhin abrufbaren) Version mit Update-Stand 26.3., 16:14 Uhr, gleichfalls noch der volle Name. Später (Update-Stand 26.3., 17:52 Uhr) kamen den Leuten beim "Kurier" offenbar Bedenken und sie änderten in dem (inhaltlich gleichbleibenden) Artikel die Schreibung so ab, wie sie am nächsten Tag auch in der Papierausgabe der Zeitung zu sehen war: also Vorname plus Anfangsbuchstabe des Familiennamens.

Was ist aus diesem verwirrenden Durcheinander zu schließen? Ist es (doch) nicht o.k., den Familiennamen auszuschreiben, aber sehr wohl in Ordnung, das Gesicht unverpixelt zu zeigen? (siehe "Kurier" am Freitag) Oder darf man zwar das Gesicht zeigen, muss es aber verpixeln? (siehe ORF) Und ist es unbedenklich, den Familiennamen auszuschreiben? (siehe "FAZ", "Zeit" und andere Zeitungen)

Ich finde, nach so viel Analyse, Überlegung und Verwirrung lässt sich eigentlich nur mehr eines mit Sicherheit sagen:

Das (Boulevard-)Mediengewerbe ist ein zutiefst verludertes und verlogenes.

Am Ende seines Leitartikels meint Brandstätter in pathetisch-gönnerhaftem Ton:

"Europäische Staaten und Unternehmen haben eine Verantwortung. Wir können vertrauen, dass diese Verantwortung gewahrt wird."

Wie schön, dass der Herr Chefredakteur so genau darüber Bescheid weiß, wie es um die Verantwortung Dritter bestellt ist. Aber wie sieht es mit der eigenen Verantwortung, nämlich jener der Medien(macher), aus? Es zeigt sich einmal mehr, dass Medien bzw. Journalisten zwar permanent bei anderen Institutionen und Personen Tugenden einfordern, über diese jedoch durchwegs selbst nicht verfügen: So hätten beispielsweise auch die Medien Verantwortung – und sei es im gegebenen Zusammenhang auch nur gegenüber einer quantitativ kleinen Gruppe wie den Angehörigen des Co-Piloten. Diese Verantwortung nehmen sie aber ganz bewusst nicht (oder im günstigsten Fall halbherzig: mit abgekürzten Namen oder verpixelten Gesichtern) wahr. Was zählen schon eine Handvoll Menschen gegenüber den vielen Leser/innen und – vor allem – Gaffer/innen, die man durch eine spektakuläre "Story" samt großformatigen Fotos erfreuen kann!

Früher gab's auf Jahrmärkten den Elefantenmenschen und andere missgestaltete Wesen, die zum Staunen und Gaudium des Publikums herumgezeigt wurden. Heute macht man das mit Fotos in der Zeitung, auf denen man zwar kein Monster mit entstelltem Kopf und verunstalteten Gliedmaßen präsentieren kann, sondern nur einen harmlos wirkenden jungen Mann, der bei der Golden-Gate-Bridge sitzt; die Veröffentlichung soll aber im Prinzip beim Publikum die gleichen Empfindungen ansprechen bzw. aktivieren wie bei den Jahrmarktsbesuchern von damals: eine gehörige Dosis voyeuristischer Neugierde, ein bisschen gruseligen Schauer über den Anblick des massenmordenden Ungeheuers, und damit vor allem die Befriedigung des Bedürfnisses nach spannender optischer Unterhaltung beim gemütlichen Verzehr der Buttersemmel am Frühstückstisch.

Zum Abschluss sei eine weitere Facette erwähnt, durch die meine Kritik an der Kurier-Berichterstattung ganz zufällig bereichert wird:

Exakt unter seinem oben erörterten Leitartikel meldet sich Brandstätter (in der Papierausgabe vom 27. März) mit einer Notiz zu Wort, in der er sich in seiner Eigenschaft als Kurier-Herausgeber an die "Lieben Leserinnen und Leser" wendet. Denen will er vor allem mitteilen, dass der "Kurier" bei der Mediaanalyse für das Jahr 2014 "besonders gut abgeschnitten" hat. Weiters meint Brandstätter – in Anspielung auf eine Gratiszeitung, mit der der "Kurier" als Konkurrent im Clinch liegt:

"Und manche sogenannte Journalisten erfinden Interviews und fälschen Fotos."

Dass so etwas im "Kurier" nicht vorkommt, wollen wir Brandstätter durchaus glauben. Ebenso wollen wir ihm zugestehen, dass er es ehrlich meint, wenn er seiner Hoffnung Ausdruck gibt, "dass sich diese Methoden nicht durchsetzen werden". Was er allerdings in seiner simplen Schwarz-Weiß-Malerei zwischen gutem "Kurier" und böser Gratiszeitung unbeachtet lässt:

Nicht nur die Veröffentlichung gefälschter Fotos kann verwerflich sein, sondern auch die Publikation echter. Wie zum Beweis hat der "Kurier" mit dem Foto des "Massenmörders" gleich auf derselben Seite ein anschauli­ches Beispiel dafür geliefert.