Samstag, 1. November 2014

"Reinbeißen" – Die Vorstände freut's

Frau Dr. Salomon ist wieder einmal nervös – oder sie tut jedenfalls so. Sie hat mit Entsetzen festgestellt, dass Österreich schon wieder in einem Ranking abgerutscht ist: von Platz 19 auf Platz 21 (als Wirtschaftsstandort) im Weltbank-Ranking.

Sie tröstet sich (und uns) zwar damit, dass Österreich damit nur "leise absinkt". Aber feinfühlig, wie sie nun mal ist, wenn es um die Interessen der Wirtschaft geht, hört sie auch ein solch leises Knirschen und nimmt das zum Anlass, ihrem "Kurier"-Leitartikel vom 30. Oktober 2014 gleich einen entsprechend dramatischen Titel zu geben: "So verspielt Österreich seinen Wohlstand".

Salomon ortet nämlich ein "problematisches Gesamtbild". Teil dessen sind (neben den aus ihrer Sicht ungünstigen Ranking-Ergebnissen) folgende Umstände:

1. Die Grünen fordern "allen Ernstes, dass Arbeitslose Urlaubsanspruch haben sollten".

Natürlich besteht im Rahmen eines propagandistischen Leitartikels weder Raum und vor allem nicht die Bereitschaft der Verfasserin, sich mit den Details des Themas auseinanderzusetzen (Was fordern die Grünen genau? Gibt es einzelne freie Tage, alias "Urlaub", für Arbeitslose schon jetzt? Wenn ja, unter welchen Voraussetzungen? Wie sieht es dabei mit der Unterscheidung von Inlands- und Auslandsreisen aus? usw.).

Arbeitslose und Urlaubsanspruch – das ist für leistungsorientierte Persönlichkeiten wie Frau Dr. Salomon kurzerhand indiskutabel. Mit Einzelheiten hält sie sich da gar nicht erst auf.

Deshalb wollen wir ihr ebenso undifferenziert und apodiktisch Folgendes entgegnen: Es ist (nebst allen anderen kritikwürdigen Umständen) armselig und kleinlich, dass eine (sicherlich nicht gerade schlecht bezahlte) Journalistin den Arbeitslosen fünf sogenannte Urlaubstage pro 90 Tage Arbeitslosigkeit (das ist nämlich – vereinfacht formuliert – die Forderung der Grünen) missgönnt.

2. Der nächste Aspekt des "problematischen Gesamtbildes" laut Salomon:

"Und in allen wirtschaftlichen Diskussionsrunden erzählen Vorstände dieser Tage, dass den jungen Arbeitnehmern 'Work-Life-Balance' wichtiger sei als Karriere. Das hat seine Berechtigung, wenn man kleine Kinder hat. Doch es drängt sich eher der Verdacht auf, dass 'Reinbeißen' keine allzu gefragte Tugend mehr ist."

Kurzantwort: Gut so, wenn dieser Verdacht der Realität entsprechen sollte.

Die drei eben zitierten Sätze Salomons verdienen in ihrer Unverfrorenheit aber auch eine ausführlichere Antwort.

Zunächst einmal sei konkretisiert, was "Work-Life-Balance" bedeutet. Laut Wikipedia bezeichnet der Ausdruck "einen Zustand, in dem Arbeits- und Privatleben miteinander in Einklang stehen". Schon dann, wenn man sich dieser Begriffsbestimmung anschließt (und ich nehme an, auch Salomon wird dies tun), erweisen sich die obigen Äußerungen der Journalistin (samt den von ihr übermittelten Erzählungen der Vorstände) als geradezu pervers, aber gerade eben dadurch als charakteristisch für die heutige Zeit:

Die "Vorstände" beklagen also, dass ihre (jungen) Untergebenen einen Ausgleich – eine Situation des Einklangs – von Berufs- und Privatleben anstreben und ihnen ein derartiger Ausgleich wichtiger sei als Karriere. Als ob ein solches Bestreben nicht die natürlichste und selbstverständlichste Sache für einen jeden Menschen sein sollte, der erstens gezwungen ist, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, und der dabei zweitens seine fünf Sinne noch einigermaßen beieinander hat!

Noch einen Grad extremer wird es dann durch Salomons eigene Überlegungen: Sie maßt sich an, nach ihrem Gutdünken zu bestimmen, welche Menschen einem derartigen Ausgleich den Vorrang (vor der Karriere) einräumen dürfen und welche nicht. Seine "Berechtigung" (!) habe ein solches Streben nach Work-Life-Balance großzügigerweise dann, wenn man kleine Kinder habe.

Und was ist mit den übrigen Arbeitnehmern? Kinderlose oder Personen mit älteren bzw. erwachsenen Kindern haben im Umkehrschluss nach Salomons Vorgaben eine derartige "Berechtigung" nicht! Die sollen sich gefälligst mit Haut und Haar ihrer Karriere (sprich: dem Wohl des Unternehmens und seiner Vorstände) widmen
Privatleben hat irrelevant zu sein.

Na, wenn das nicht zeigt, dass der Kapitalismus ein totalitäres System ist! Völlig ungeniert und unverblümt führen einem das Salomon & Co. mittlerweile vor Augen.
Ob man über diese Offenheit empört oder dafür dankbar sein soll (weil einem auf diese Weise die Kritik am System und seinen Repräsentant/innen so unendlich leicht gemacht wird)? Schwer zu sagen.

Was die "Vorstände" verdienen, deren Weisheiten Frau Dr. Salomon so gerne lauscht, lässt sich zum Beispiel auf der Hompepage des Interessenverbandes für Anleger nachlesen. Dort steht etwa hinsichtlich der "35 erfassten Unternehmen des Prime Segments der Wiener Börse" für das Jahr 2013 (http://www.iva.or.at/artdetail.php?id=11558, aufgerufen am 31.10.2014):

"Ein Vorstand hat wie im Vorjahr im Durchschnitt 3,6 Mitglieder. Das einzelne Vorstandsmitglied erhält im Schnitt 903 TEUR [= 903.000 Euro], das sind um 2 % mehr als im Vorjahr (880 TEUR). Der Anteil der Fixbezüge am Gesamtbezug liegt in Österreich bei eher hohen 58 %, Schwankungsbreite zwischen 30 und 100 %."

Jemand, der jährlich etliche hunderttausende Euro kassiert, erwartet sich also von den Untergebenen, dass diese noch mehr schuften – damit die Unternehmensgewinne und damit die Vorstandsbezüge auch weiter schön wachsen können!

Und Salomon schlägt natürlich in die gleiche Kerbe. Sie befürchtet, "dass 'Reinbeißen' keine allzu gefragte Tugend mehr ist". Was mit der Tugend (!) "Reinbeißen" faktisch gemeint ist, lässt sich im Lichte der Klagen der Vorstände und der Höhe ihrer Bezüge drastisch, aber dafür im Klartext auch so ausdrücken:

Die (kleinkindlosen) Arbeitnehmer-Sklaven sollen sich gefälligst (noch mehr als bisher) den Arsch aufreißen für das Unternehmen, für die Vorgesetzten und die "Vorstände".

Und wenn sie das nach Meinung der Vorstände und ihrer journalistischen Sprachrohre nicht in ausreichendem Maße tun, dann wedelt man mit irgendwelchen Ranking-Ergebnissen über die mangelnde Attraktivität des österreichischen Wirtschaftsstandorts und verkündet drohend, dass Österreich "seinen Wohlstand verspielt".

Welchen Wohlstand meint Frau Dr. Salomon? Den der 903.000-Euro-Vorstände? Bei denen herrscht ja tatsächlich Wohlstand, und zwar in unverdientem und unverschämtem Ausmaß. Der steht allerdings sicherlich nicht auf dem Spiel. Dafür sorgen schon die Steuer- und sonstigen Abgabengesetze, die die Reichen bzw. ihr "hart erarbeitetes" Geld schonen.

Ganz abgesehen davon, dass der Wohlstand im Land also ohnedies sehr ungleich verteilt ist (1% der Bevölkerung besitzt 40% des Gesamtvermögens – man muss es immer wieder erwähnen!), ergibt sich als Schlussfolgerung:

Soweit es in Österreich so etwas wie einen "gesamtgesellschaftlichen" Wohlstand (in Form von Sozialstaat, funktionierendem Gesundheitssystem etc.) gibt, wird dieser angesichts solcher Zahlen über Einkommens- und Vermögensverhältnisse bestimmt nicht dadurch verspielt, dass Arbeitslose allenfalls ein paar Tage "Urlaub" bekommen; und auch nicht dadurch, dass junge (oder ebenso ältere) Arbeitnehmer ihrem Leben auch noch einen anderen Inhalt und Sinn geben möchten, als für "ihr" Unternehmen zu schuften. Wohlstand ist nämlich genug vorhanden. Er müsste nur gerecht (um)verteilt werden.

Dass dies aber ja nicht geschieht, bzw. dass Menschen gar nicht erst auf die unverschämte Idee kommen, so etwas ernsthaft zu denken, geschweige denn zu fordern – genau dafür arbeiten unermüdlich Boulevardmedien wie der "Kurier" und deren journalistische Gallionsfiguren à la Salomon.

3. Von einigen sonst treuen Gesinnungsgenossen wurde Salomon in den letzten Tagen etwas enttäuscht (auch das gehört für sie zum "problematischen Gesamtbild"):

Die Partei der Neos "diskutiert lieber über Hasch-Legalisierung als über Wirtschaftsliberalismus", wie die Journalistin bedauernd feststellt.

Nur keine Sorge: Der superreiche Strippenzieher an den Marionetten der Neos – Hans Peter Haselsteiner – hat laut Kurier-Meldung vom 30. Oktober zur "Hasch-Legalisierung" schon klargestellt, dass er "das Thema überhaupt nicht für prioritär" halte. Die Chancen stehen also gut, dass sich die Neos bald wieder ausschließlich jenen Themen widmen, die Salomon & Co. so sehr am Herzen liegen. Auch wenn sie meint:

"Mit Wettbewerb, Markt, technischem Fortschritt (und da reden wir noch gar nicht von Deregulierung) gewinnt man keine (Wähler-)Sympathie".

Irrtum. Leider gewinnt man damit viel zu viel davon. Sonst säßen weder das Team Stronach noch die Neos im Nationalrat, aber dafür eine Linkspartei.

4. Doch gerade von links droht aus der Sicht Salomons die Gefahr:

"An der Uni Wien regieren zum Beispiel seit geraumer Zeit die Kommunisten in der Studentenvertretung mit."

Oh Schreck, auch das noch! In Anbetracht dieses fürchterlichen Umstandes bricht sogar bei einer gestandenen Neoliberalen wie Salomon jeglicher Optimismus zusammen. Resignierend stellt sie fest:

"Eine Trendwende hin zu mehr Wirtschaftsvernunft ist daher in nächster Zeit kaum zu erwarten. Damit verspielen wir langfristig unseren Wohlstand."

Na klar: Wenn die Kommunisten an der Wiener Uni in der Studentenvertretung sitzen – da kann es doch (aus Sicht einer Salomon) mit dem Land nur mehr bergab gehen.

Mir hat dieser Leitartikel (wieder einmal) gezeigt: Wünschenswert wäre nicht mehr "Wirtschaftsvernunft" im Salomon'schen Sinne, sondern mehr "Leser/innenvernunft": nämlich eine größere Fähigkeit und Bereitschaft der Medienkonsument/innen, derartige journalistische Beiträge als das zu erkennen und anzuprangern, was sie sind: propagandistisch, manipulativ (zugunsten einer menschenverachtenden und ungerechten Sache) sowie in der Argumentation unschlüssig (und zuweilen unfreiwillig komisch).