Montag, 30. Juni 2014

Die Pensionisten und Mick Jagger

Was ich (als um Rationalität zumindest bemühter) Mensch immer wieder unterschätze, ist die Wirksamkeit folgender Taktik (bzw. Finte): Man muss der breiten Bevölkerung nur immer wieder hartnäckig dieselben Behauptungen oder Ideen vorsetzen – irgend­wann wird sie an das glauben, was man ihr präsentiert. Mit diesem Mittel arbeiten Dikta­turen ebenso wie die Machtträger in unserer angeblich freien Gesellschaft: nämlich in erster Linie Unternehmen (via Werbung und Public Relations) und der Boulevard­journa­lismus – hinter dem natürlich letztlich auch nichts Anderes als (Medien-)Unternehmen stehen; das monotone mediale Wiederkäuen der Behauptung, es handle sich um "unabhängigen Journalismus", ist gleich ein erstes Beispiel für die eingangs erwähnte Taktik des "Steter Tropfen höhlt den Stein".

Ein weiteres schönes Beispiel liefert der Artikel der stellvertretenden Kurier-Chefredak­teurin Martina Salomon in ihrer Kolumne "Salomonisch" am vergangenen Samstag (28. Juni 2014) (Seite 9). Er trägt den Titel "Mit 60 Jahren, da fängt das Leben an – in Pension". Inhaltlich wärmt Salomon im Prinzip genau das auf, was sie bereits in einem Leitartikel am 7. September 2013 propagandistisch unters Volk gebracht hat. Darauf habe ich zwei Tage später ausführlich in einem Blog-Eintrag repliziert ("Von der Wiege bis zur Bahre…").

Was in meinem verlinkten Blog-Artikel steht, könnte ich eins zu eins auf Salomons journalisti­sche Weisheiten vom Samstag übertragen. Aber da ich – im Gegensatz zu Frau Dr. Salomon – kein "unabhängiger" (und erst recht kein abhängiger) Journalist bin, habe ich es nicht nötig, x-mal dasselbe zu schreiben, um die Gehirnwäsche bei Leserinnen und Lesern voranzutreiben.

Daher seien nur ein paar delikate Details aus dem aktuellen Artikel herausgegriffen und kommentiert.

Die Überlegungen Salomons zur Beschäftigung älterer Arbeitnehmer sehen unter Anderem folgender­maßen aus:

Zunächst schreibt sie: 

"Theoretisch sollten Firmen nicht auf Wissen und Begabungen Älterer verzichten. Praktisch kriegt die Geschäftsführung einen Bonus, je mehr teure Ältere sie los wird." 

Als Kritik Salomons an der Existenz dieser Boni ist das allerdings kaum zu aufzufassen. "Teuer" sind sie, die Älteren; darin liegt das Problem. Was in dem Satz durch­schimmert, ist die Botschaft: "Die älteren Beschäftigten sind für ein Unter­nehmen eine Last, weil sie zu viel kosten. Wäre doch schön, deren 'Wissen und Begabungen' voll ausnützen zu können, ohne sie dafür viel besser als die jüngeren bezahlen zu müssen." So – und nicht anders – ist Salomons Bezugnahme auf den Bonus, den die Geschäftsführung erhält, zu interpretieren. Das entspricht dann nämlich exakt der gängigen These der Technokraten, wonach eine Abflachung der Gehaltskurve mit steigendem Alter wünschenswert sei.

So fügt sich der Satz über die Boni auch zu dem, was Salomon einige Zeilen weiter meint: 

"Erhöhter Kündigungsschutz Älterer? Weg damit! So schwächt man Wiedereinstiegs-Chancen." 

Wenn man die beiden Textstellen in Kombination betrachtet und ihr journalistisches  Newspeak entschlüsselt, ergibt sich folgende Kon­sequenz: Ein Unternehmen soll von "Wissen und Begabungen" der Älteren gleichsam zum Diskont­preis profitieren können. Aber wenn (auch) das nicht mehr opportun ist, soll man die Betreffenden doch gefälligst kurzerhand feuern dürfen. Eine Zahnpastatube wirft man ja schließlich ebenfalls weg, nachdem man sie vollständig ausgequetscht hat.

Und einmal mehr tarnt sich neoliberale Menschenverachtung hinter geheuchelter Sorge um die Betroffenen: Durch erhöhten Kündigungsschutz schwäche man (laut Salomon) Wiedereinstiegs-Chancen. Das halte ich gleich in zweierlei Hinsicht für ein faden­scheiniges Argument:

Wer vor Kündigung (besser) geschützt ist, für den ist es auch weniger wahrscheinlich, dass er auf die Straße gesetzt wird (= werden kann) und deshalb eine Wiedereinstiegs-Chance benötigt. Der zweite Aspekt: Es ist paradox, dass bereits vor der etwaigen Anstellung eines älteren Menschen schon wieder darauf geschielt wird, wie man ihn "im Bedarfs­fall" möglichst leicht wieder loswerden kann. So nach dem Motto: "Sei froh, dass dich in deinem Alter überhaupt noch eine Firma nimmt. Dafür hast du gefälligst das Prinzip des knallharten 'hire and fire' zu akzeptieren."

Übrig bleibt also bei der zackigen Salomon'schen Parole des "Weg damit!" wieder ein handfester Nutzen für die Arbeitgeber und eine weitere Schwächung der Position von Lohnabhän­gigen.

Und dann wird in dem Artikel natürlich auch wieder dagegen Stimmung gemacht, dass der Ruhestand tatsächlich mit Ruhe verbunden ist. Schließlich kostet das ja etwas in Form von Pensionszahlungen an die Müßiggänger/innen. Also muss eine Art Beschäftigungspolitik für Senioren entwickelt werden, um diese auf Trab zu bringen (bzw. besser gesagt: zu halten). In ihrem Artikel vom 7. Sep­tem­ber fand Salomon diesbezüglich an folgendem eigenartigen Modell Gefallen: 

"Der deutsche Versandhändler «Otto» hat einen Pool von Pensionisten, die bei Bedarf eingesetzt werden." 

In der Kolumne vom vergangenen Samstag kommt es noch perfider. Salomon propa­giert eine Art Zivildienst für Senioren:

"Wer im Ruhestand gemeinnützige Arbeit leistet, könnte einen Pensionsbonus bekom­men." 

Man beachte, wie es den Neoliberalen mit solchen Ideen gelingt, gleich mehrere, ja geradezu alle Fliegen mit einer Klappe zu schlagen:

- Die staatliche Grundpension kann auf ein Minimum reduziert werden (unter Umstän­den so weit, dass sie tatsächlich nicht mehr zum Leben reicht). Wer mehr will (oder braucht), der muss eben gemeinnützige Arbeit leisten. Dafür gibt es dann als Belohnung eine Draufgabe zur kümmerlichen Basispension.

- Der Staat bzw. sonstige öffentliche Einrichtungen entledigen sich noch mehr als bisher der "Last" der Finanzierung kommunaler bzw. sozialer Aufgaben, indem man die zuge­hörigen Tätigkeiten von Menschen ausüben lässt, die man dazu zwingt (und sie dafür mit einem Almosen abspeist): durch direkten Zwang die Wehr- und Zivildiener; und durch indirekten Zwang die Menschen ab 65 (oder gar erst später), die unmittelbar nach ihrer Erwerbstätigkeit die gemeinnützige Arbeit in Angriff nehmen (müssen) – nicht, weil sie das Bedürfnis dazu hätten (wer es aus Überzeugung macht, der tut es wohl auch jetzt schon, ohne "Pensionsbonus"), sondern weil sie auf das Bonus-Almosen (sei es auch noch so mickrig) angewiesen sind.

- Die öffentliche Hand spart also Geld. Die Steuern können somit gesenkt und die Reichen noch reicher werden; und die Großver­mögen (die selbstverständlich weiterhin unbe­steuert zu bleiben haben) können auch in Zukunft ungehindert wachsen.

Wie (gleichzeitig) blöd und egoistisch muss eine Gesellschaft (nämlich die west­lich-kapitalistische) doch sein, dass sie gegen all diese Unfreiheit, Ungleichheit und Men­schen­verachtung nicht aufbegehrt!

In einem einzigen Satz von Salomons Kolumne steckt Wahrheit: 

"Arbeitnehmer haben nach spätestens 30 Jahren in einem unglamourösen Job ohnehin die Nase voll." 

So wird es wohl meistens sein. Erstaunlich, dass ihr diese Einsicht in den Text hinein­gerutscht ist. (Aber einige Zeilen später wird es ohnehin schon wieder ins Gegenteil verdreht – siehe dazu unten.) Nebenbei ganz amüsant ist Salomons weitere Fest­stellung: 

"Sitzen sie [= die bisherigen Arbeitnehmer] dann endlich daheim, sind sie aber auch nicht zufrieden und schimpfen gern auf die Politik." 

Sehen wir davon ab, dass schon die Aussage dieses Satzes als solche ziemlich jenseitig ist. (Unterstellt wird damit, dass die Pensionisten nichts Anderes tun, als griesgrämig zu Hause zu sitzen. Da könnten sie in der Salomon'schen Vorstellungswelt doch gleich im "unglamourösen Job" weiterschuften, anstatt eine Pension zu kassieren.) Kurios ist das Detail mit dem Schimpfen auf die Politik:

Ja was machen denn die innenpolitischen Kommentatoren der Boulevard­medien? Genau das! Es gibt doch so gut wie keinen Artikel dieser Zunft, in dem nicht auf die Politik geschimpft wird. Der Unterschied: die Journalisten werden dafür gut bezahlt; die Pensionisten machen es im stillen Kämmerlein oder am Stammtisch. Das Niveau der Äußerungen ist bei beiden Personen­gruppen gleich niedrig.

Am Schluss ihres Artikels schwingt sich Salomon wieder zum gewohnten neoliberalen Newspeak auf und schreibt:

"Arbeit ist nicht nur Leid, das vom wahren Leben abhält. Macht der Job Spaß, kann man ihn lange ausüben." 

Zwar zeichnet die von Salomon selbst nur wenige Zeilen zuvor angesprochene Erfah­rung zahlreicher Arbeitnehmer mit "unglamourösen Jobs" ein anderes Bild, aber bitte …

Fast schon grotesk wird Salomon mit jenem Beispiel, das sie als Beleg dafür ins Treffen führt, dass der Job Spaß machen und man ihn dann lange ausüben könne: 

"Uropa Mick Jagger wird sicher noch bei einem weiteren allerletzten Abschiedskonzert das Stadion rocken. Pension kann nämlich ganz schön fad sein." 

Und Zeitungsartikel können ganz schön blöd sein.

Einen Künstler (also den Angehöri­gen einer schon mal von Haus aus höchst untypischen Berufsgruppe) und dann noch dazu einen sogenannten "Weltstar" (also einen ganz besonders Untypischen unter den ohnedies schon Untypischen) als Vorbild und Ver­gleichsmaßstab für hundert­tau­sende (künftige) ASVG-Pensionist/innen bzw. für Bau­arbeiter, Straßenbahn­fahrer, Super­markt-Mitarbeiter oder meinet­wegen auch Filialleiter, Bankangestellte und Oberbuchhalter (beiderlei Geschlechts) zu präsentieren (sei es auch nur als lockere Schlussbemerkung) – das ist ebenso absurd und lächerlich wie zynisch.

Da fehlen mir weitere (veröffentlichungstaugliche) Worte.