Freitag, 2. August 2013

Weh dem, der das "Falsche" studiert ...

Der Chef des österreichischen Wirtschaftsforschungsinstituts, Karl Aiginger, lässt in einem Interview im "Kurier" vom 1. August 2013 mit einem Vorschlag "aufhorchen" (um einen der unzähligen dämlichen Ausdrücke aus der Sprache der Medien zu verwenden, der typischerweise immer dann gebraucht wird, wenn jemand etwas gesagt hat, das längstens eine Woche später ohnedies schon wieder vergessen ist).

Aiginger beantwortet die Frage "Wie stehen Sie zu Studiengebühren?" folgender­maßen:

"Ich würde sie gestaffelt einführen. Je geringer die Arbeitsplatzchancen bald nach Studiumabschluss sind, desto höher sollte die Studiengebühr sein."

Das ist eine Idee, die von der stellvertretenden Kurier-Chefredakteurin, Martina Salomon, gleich in derselben Ausgabe des "Kurier" natürlich mit Freuden aufgegriffen wird. Sie beklagt in ihrem Leitartikel zunächst, dass "Tausende Studenten […] in Modefächer wie Psychologie oder Publizistik (drängen)" (anstatt sich für Studienbereiche wie Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik zu entscheiden). Als Abhilfe empfiehlt sie dann unter anderem Aigingers Idee und schreibt:
 

"An den Unis wiederum lassen sich mittels Studiengebühren die Studentenströme lenken: WIFO-Chef Aiginger schlägt vor, die Beiträge nach Arbeitsplatzchance zu staffeln, was total vernünftig wäre."

In diesen zwei Sätzen steckt auch schon drinnen, worum es den Anhänger/innen des kapitalistischen Systems im Kern geht: Man muss die Menschen – sofern sie widerspenstig sind und nicht ohnedies freiwillig (?) das tun, was dem System und seinen Nutznießern am besten dient – entsprechend "lenken".

Das ist natürlich im Ergebnis nichts Anderes, als von einer Diktatur im landläufigen Sinne auch zu erwarten wäre: Der Staat könnte genauso gut vorschreiben, dass pro Studienjahr 5000 junge Leute ein Technik- oder Informatikstudium zu beginnen haben und nur 3 Personen ein Studium der Afrikanistik oder der Numismatik.

Aber unser schönes kapitalistisches System rühmt sich ja immer damit, dass in ihm alle Menschen frei in ihren Entscheidungen seien, und da wäre so etwas Böses natürlich undenkbar. Damit dennoch dasselbe Resultat erreicht wird wie in einer herkömmlichen Diktatur, gibt es ja auch ein viel eleganteres Mittel: das Geld (wie bei allem und jedem in diesem fabelhaften System):

Du bist selbstverständlich frei in deiner Studienwahl – aber entscheidest du dich für das (nach kapitalistischer Logik) "falsche" Studium, dann hast du dafür eben eine Art Strafe in Form erhöhter Studiengebühren zu bezahlen. (Unschwer lässt sich folgern, dass solchen Systemaußenseitern im Fall ihrer Mittellosigkeit auch keine Stipendien gewährt würden.)

Womit man wieder einmal sieht: Der Kapitalismus stellt mit den Menschen alles Mögliche an. Aber frei(er) macht er sie sicherlich nicht.

Der Idee mit den gestaffelten Studiengebühren ist (neben diversen anderen Argumenten) beispielsweise Folgendes entgegenzuhalten:

- Ein Staat, der zu den reichsten der Welt zählt, sollte es sich auch leisten können, jungen Menschen den Zugang zu jenem Studium zu ermöglichen, das ihren Wunschvorstellungen entspricht und zu dem sie sich im Idealfall berufen fühlen. Und ein Staat, zu dessen Grundrechten die Freiheit der Berufsausbildung zählt (Artikel 18 des Staatsgrundgesetzes), der muss sich das sogar leisten können – ohne dieses Grundrecht durch finanzielle Schikanen faktisch auszuhebeln.

- Und natürlich wären die nach Studien gestaffelten Gebühren wieder einmal zutiefst unsozial: Wer das Geld dazu hat, darf sich sein Studium aussuchen; der Sprössling reicher Eltern kann durchaus mal ein paar Jahre ein Orchideenstudium betreiben. Junge Leute ohne entsprechenden finanziellen Hintergrund hätten diese Chance nicht. 

Das letzte Wort zu dem Thema soll aber der Grazer Universitätsprofessor für Soziologie Manfred Prisching haben, der brillant das grundsätzliche Übel beschreibt, das durch bildungspolitische Vorstellungen wie jene Aigingers und Salomons verursacht wird.

Prisching schreibt in seinem (durch und durch lesenswerten) Buch "Die zwei- dimensionale Gesellschaft" (2. Auflage, 2009):
 

"[…] die allgemein akzeptierte reduktionistische These lautet: Bildung, Schulen, Quali­fi­ka­tionen, Universitäten – das sind Ressourcen im Kampf um Wettbewerbsfähigkeit und Standortvorteil. Manager haben erkannt: Das Sein bestimmt das Bewusstsein, und das bedeutet in diesem Fall: Die Gesellschaft ist so reich geworden, dass sie an nichts anderes mehr denken kann als an die Mehrung ihres Reichtums. Irgendwann hatte Bil­dung mit Persönlichkeitswerdung, mit dem abendländischen Erbe, mit der Entwicklung des Verstandes, mit Emanzipation, demokratischer Reife und Ausgang aus der wie immer verschuldeten Unmündigkeit zu tun; aber das ist lange her. (…) Nunmehr herrscht die materialistische anstelle der aufklärerischen Perspektive. Bildung hat mit dem Sozialprodukt zu tun, mit dem globalen Wettbewerb, der Innovationsrate und dem technischen Fortschritt. […] Wissen als Ganzes driftet in den Bereich von Marktverwert­barkeit (…), und andere Überlegungen – über die 'Brauchbarkeit' der Selbstreflexion oder die 'Umwegsrentabilität' eines breiteren Bildungshorizontes – kommen nicht mehr vor. Ein legitimer Teilaspekt usurpiert das Ganze." (a.a.O., Seite 245)

"Die Idee eines gebildeten Menschen ist das dritte unzeitgemäße Modell [Anm.: neben der Idee des reifen Menschen und jener des genügsamen Menschen], und es wird von den Vertretern des Wirtschaftsprogressismus nach Kräften diskreditiert. Auch der Bil­dungsgedanke – insbesondere in seiner deutsch-bildungsbürgerlichen Form (…), aber auch im Anspruch einer französischen Philosophie – bot eine 'Gegenwelt' gegen die radikale nihilistische und marktgetriebene Immanenz; eine Bezugswelt, auf die man sich selbstbewusst zu beru­fen pflegte; eine Plattform, von der aus man die 'Systemwelt' (auch die Politik) zu beurteilen und die 'Lebenswelt' einzurichten wagte; ein trans­zen­den­ter Punkt, welcher der Verfügbarkeit der Machthaber entzogen war, ja ihnen entge­gengehalten werden konnte. Für die zweidimensionale Gesellschaft ist dies natürlich eine leidige Gegenwelt; und während über viele Jahre der Staat Teile dieser Welt – et­wa in Form der Humboldtschen Universität – zu schützen pflegte, hat er sie, aus populistischen und opportunistischen Gründen, mittlerweile preisgegeben. Somit werden die letzten Widerstandsnester – es kommt der Eindruck auf: gezielt – ausgeräuchert, wel­che ein Gegengewicht zur Dominanz von Geld und Spaß darstellen hätten können." (a.a.O., Seite 277)

Aber das sind Überlegungen, die Systemtechnokraten und ihren journalisti­schen Sprachrohren natürlich zutiefst fremd sind.